Vor Jahren schied der Schweizer Architekt Kurt Hauenstein aus einer Zürcher Büropartnerschaft aus, um in Fläsch ein neues Büro zu eröffnen. Seine spezielle Ortskenntnis und die Erfahrung, die er sich mit zahlreichen Bauten und Sanierungen in Fläsch und im Kanton Graubünden aneignete, führten für sein eigenes Wohnhaus zu einem Entwurf, der in bäuerlicher Lebenskultur gründet und dörfliches Leben neu interpretiert. Hauenstein stellte einem alten Weinbauernhaus einen bewusst einfach gehaltenen, schroffen Betonkubus gegenüber, der sich überzeugend in Ort und Alpenlandschaft fügt.
Im größten Schweizer Kanton Graubünden ist der Rhein nur ein knietiefes Rinnsal. Erst der Zufluss von Schmelzwasser im Frühjahr vermittelt eine Ahnung, zu welcher Größe der Fluss auf seinem Weg in die Nordsee noch anschwillt. »Bündner Herrschaft« wird der Teil des Kantons Graubünden genannt, in dem das Dorf Fläsch liegt. Der Name geht zurück auf eine Zeit, als der Kreis als Freistaatskonstrukt von drei Schweizer Bünden politisch verwaltet wurde.
Fläsch mit seinen knapp 600 Einwohnern liegt im nördlichsten Teil der »Bündner Herrschaft« am Fuß des Fläscherberges. Seit dem 9. Jahrhundert wird hier Wein angebaut. 16 Weinbaubetriebe bewirtschaften heute 48 Hektar Rebland.
Fläsch ist im Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) aufgeführt. Die Gemeinde will die Weinlagen, die teilweise im Ort liegen, erhalten und vor einer Überbauung schützen. Nach einem Entwurf der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur wurden ein Neugestaltungskonzept und ein neues Baugesetz vorgeschlagen, um im Dorfkern gelegene Weinlagen, die als Bauland (Kerngebiet) ausgewiesen wurden, zugunsten der weiteren landwirtschaftlichen Nutzung zu schützen. Angesichts der hohen Grundstückspreise wurde diese Maßnahme und die beabsichtigten Entschädigungen der Grundstücksbesitzer nicht ohne begleitende Neiddebatte geführt.
Nach einer ersten Ablehnung in der Gemeindeversammlung im Jahr 2007 konnte die neuen Verordnungen erst Anfang November 2008 beschlossen werden. In diesem Umfeld erwarben der Architekt Kurt Hauenstein und seine Frau Marilies Düsterhaus, die vor zehn Jahren aus Zürich nach Fläsch gezogen waren, ein Grundstück in Randlage; mit einem Gebäudebestand aus einer Zeit, in der die Bündner Herrschaft noch bestand. Das vermutlich Anfang des 18. Jahrhunderts erbaute Bauernhaus wurde von Hauenstein von Grund auf saniert und der ursprüngliche Grundriss mit dem engen und steilen Treppenhaus und den beiden flankierenden Räumen wiederhergestellt.
Die Ausweisung des Grundstücks als bauliches »Kerngebiet« hätte auch einen Komplettabriss mit einem mehrgeschossigen Neubau ermöglicht. Hauenstein entschied sich aber für den Bestand und ersetzte nur die angebaute ehemalige Scheune durch einen Neubau.
Den massiven Wänden des Altbaus hat der Architekt die 50 cm dicken Wände des Neubaus mit einem Gesamtaufbau aus einer innen liegenden 11 cm dicken Fichtenschalung einschließlich Unterkonstruktion mit 14 cm Dämmung und 25 cm Sichtbeton gegenübergestellt. Der eingefärbte Ortbeton der Außenwand wurde abschließend zusätzlich anthrazit hydrophobiert und zitiert nicht nur die dunkel verwitterten Fassaden alter Scheunen, sondern auch die hinter dem Ort aufgehende schwarze Steilwand des Fläscherberges. Die Lochfassade des Neubaus hat ihre Entsprechung in den kleinteiligen Fenstern des alten Wohngebäudes. Die Fenster wurden so in die Kubatur gefügt, dass aus den nahe stehenden Nachbargebäuden kein Einblick möglich ist und jedes der Fenster einen genau komponierten Ausblick in die beeindruckende Kulisse der Schweizer Alpen ermöglicht.
Auf einem als Garage genutzten Sockelgeschoss stehend, sind die beiden Wohngeschosse nur andeutungsweise unterteilt und bilden über die gemeinsame Galerie einen großen Wohnraum, der im Obergeschoss von einem zentralen Kamin dominiert wird. Nebenräume wie Bäder, Toiletten und Aufzugsschacht sind im Zwischenbau untergebracht. Auch hier sind die Räume durch überraschende Ausblicke geprägt; so ist durch das gläserne Dach des oberen Bads eine Sichtbeziehung auf den nahen Berg gegeben. Auch wenn die vorhandene, abenteuerlich steile Treppe des Altbaus nicht modernem Komfortempfinden entspricht, wurde zugunsten eines Aufzuges auf ein weiteres Treppenhaus verzichtet. Zwar läuft der Bauherr diese Treppenanlage mittlerweile leichtfüßig herunter, der Besucher fühlt sich jedoch an einen bergsteigerischen Abstieg erinnert.
Bewusst lebt das Paar mit den Widersprüchen zwischen Alt und Neu. Der Bestand hätte nicht hinreichend gedämmt werden können, ohne dem Bau seinen Charakter zu nehmen. Auf eine thermische und lüftungstechnische Abschottung des Neubaus zum Altbau mit allen seinen offenen Fugen wurde verzichtet. Den »perfekten« Oberflächen im Neubau stehen die von Gebrauchsspuren gezeichneten Türen und Wandvertäfelungen im Altbau gegenüber. Vorgefundene Farbreste in der Küche wurden erhalten und konterkarieren den Perfektionismus einer mit modernsten Geräten ausgestatteten Küche mit ihrem hochpolierten Edelstahl. Umschlossen wird das Grundstück von einer dunklen Mauer aus Stampfbeton, die den typischen grob verputzten Bruchsteinmauern der Gegend formal entspricht. Auch die im Ortsbild häufig vorkommenden ehemaligen Viehtränken hat der Architekt mit einem monolithisch betonierten Brunnen auf seinem Grundstück zitiert.
»Casascura«, dunkles Haus, hat das Ehepaar sein Gebäudeensemble genannt. Der in den massiven Stahl des Hoftores geschnittene Name mag zwar vordergründig den Neubau umschreiben, tatsächlich findet er seinen Ursprung im Nachnamen der Hausherrin.
Für G. W. F. Hegel ist Harmonie ein Moment, in dem sich das qualitativ Verschiedene nicht nur als Gegensatz und Widerspruch darstellt, sondern »eine zusammenstimmende Einheit« bildet. Hauenstein spiegelte den vorgefundenen Grundriss des Altbaus und verbindet diesen gestalterischen Dialog mit einem gläsernen Zwischenbau zu einer architektonischen Gesamtaussage, in der Neu und Alt nebeneinander bestehen können. Bemerkenswert ist auch die »gespiegelte« Materialwahl für den Neubau: Rauer Sichtbeton steht einem grob verputzten Gebäude gegenüber. Die erhaltene Holzvertäfelung im alten Wohnraum und die Putzflächen im Altbau wurden in eine weiß gekalkte Holzschalung aus Fichte an den Innenseiten des Neubaus übersetzt und sind dort durchgängig über Wand- und Deckenflächen geführt. Als Mittler zwischen Alt und Neu dient ein durch alle Räumlichkeiten durchlaufender Eichenholzboden, der mit Kalkzusatz geölt und damit ebenfalls aufgehellt wurde. Es sind auch diese wenigen, aber gut überlegten Materialentscheidungen, die das Gebäudeensemble zu einer »zusammenstimmenden Einheit« machen.